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Von Zweifeln, Dreck und Durchbruch – Timos Weg zum Weltcup

Manchmal ist der Kompass nicht das Problem – sondern das eigene Kopfkino. Timo hat sich für den Weltcup qualifiziert. Das klingt glatt, sauber, heldenhaft. Aber wer glaubt, das sei ein geradliniger Weg gewesen, kennt weder den Orientierungslauf noch Timo. Zwischen „Ich schmeiss alles hin“ und „Vielleicht reicht’s ja doch“ liegt ein mentaler Kartenwald aus Frust, Fokus, Flow – und verdammt viel Training.


Wir zeigen seinen Weg nicht in Medaillen und Zeiten – sondern in Gedanken und Gefühlen. Hier ist Timos Timeline des Testlaufwochenendes – von der letzten schnellen Einheit bis zur Weltcup-Nominierung.


Glücklicher Timo (Foto: Orienteering Focus)
Glücklicher Timo (Foto: Orienteering Focus)

Dienstag, 03.06., 18:20 Uhr, Töölö, Helsinki


Psychischer Zustand: 6/10

Physischer Zustand: 9/10


Das letzte Intervall vor den Testläufen. 15 x 1 Minute mit Coach Laurin, der mich durch die Pausen führte. Das Gefühl ist schnell, zu schnell? Oder sind es nur die vielen Runner clubs, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls ihre Runden um den See drehen?


Mittwoch, 04.06., 11:38 Uhr, IKEA Vantaa, Helsinki


Psychischer Zustand: 8/10

Physischer Zustand: 6/10


Wie es sich für VIP`s gehört wurden Laurin und ich mit dem Taxi (7.30) zur IKEA gefahren, wo wir von unseren Kollegen schon sehnsüchtig erwartet wurden. Das Englisch des Uberfahrers war sehr gebrochen, umso grösser war die Freude, als wir uns auf Französisch ein wenig besser verständigen konnten.


Mittwoch, 04.06., 20:04 Uhr, K-Citymarket, Kuopio


Psychischer Zustand: 10/10

Physischer Zustand: 8/10


Der Supermarkt war gigantisch und das Highlight des Tages erspähte ich in der Lego Abteilung. Ein Minipussi (finnisch für kleiner Sack) Lego Technik für 3 Euro. Ein absoluter Nobrainer für jeden Schnäppchenjäger und der Gamechanger für die nächsten Tage. Auch wenn meine Mitbewohner ebenfalls ein Lego aussuchen durften, war ich stolz auf meinen Minibagger und wollte mit niemandem tauschen.


Freitag, 06.06., 14:03 Uhr, Autobahnbrücke nördlich von Kuopio


Psychischer Zustand: 8/10

Physischer Zustand: 6/10


Nachdem gegen Ende unseres Dauerlaufes Laurin noch eine stinkwichtige Sitzung im Wald antreten musste, holte ich mit Floli das Auto, um Laurins Laufstrecke ein wenig zu verkürzen. Ich hatte einen Clown zum Frühstück gegessen und fand es sehr lustig, Laurin am Strassenrand stehen zu lassen und erst 10 Minuten später aufzuladen.


Freitag, 06.06., 23:10 Uhr, Park neben Apartment, irgendwo in Kuopio


Psychischer Zustand: 5/10

Physischer Zustand: 8/10


Die Nervosität kickt. Die Anspannung baute sich über die letzten 2 Wochen kontinuierlich auf und verunmöglichte ein sofortiges Einschlafen. Der Abendspaziergang mit Coach Laurin entspannte ein wenig und viele beinahe philosophische Fragen wurden beantwortet.


Samstag, 07.06., 09:59 Uhr, Schule in Kuopio


Psychischer Zustand: 9/10

Physischer Zustand: 9/10


Die Challenge wird real... Das Ziel kommt immer näher und ich kann es eigentlich nicht erwarten endlich loszulassen und geiler OL zu machen. Die Zeit in der Quarantäne überbrückte ich mit meinem Lego-Bagger, der eine sehr beruhigende Wirkung auf mich hatte.


Samstag, 07.06., ab 12:49 Uhr, Puijonsarvi


Psychischer Zustand: 10/10

Physischer Zustand: 10/10


Endlich ging es los, mir gelang ein sehr kontrollierter Start und ich kam in einen guten Flow. Es lief alles nach Plan. Spätestens als ich nach Rennhälfte hinter mir Beni erspähte, war es Motivation genug, um weiterhin zu pushen. Sogleich wurde auch mit einer guten Route die Bestzeit zum nächsten Posten aufgestellt.


Samstag, 07.06., 13:20 Uhr, wieder bei der Schule


Oui, je suis vraiment très content.

Psychischer Zustand: 12/10

Physischer Zustand: 4/10


Im Ziel war ich sehr zufrieden mit meinem Lauf. Ein, zwei kleine Bogen aber ich konnte zeigen, was ich kann und darüber freute ich mich sehr.




Sonntag, 08.06., 02:30 Uhr, Spielplatz neben Apartment, irgendwo in Kuopio


Psychischer Zustand: 2/10

Physischer Zustand: 3/10


Es war schwierig, denn das gute Resultat im Middle bestätigte vieles, aber ermöglichte auch viele Träume, welche mir ein wenig zu schnell in den Kopf stiegen. Umso schwieriger war es für mich, einzuschlafen und so kam es, dass ich um halb drei Uhr morgens auf dem benachbarten Spielplatz auf der Schaukel sass und die Wolken am Himmel bestaunte.


Sonntag, 08.06., 11:07 Uhr, Tahko


Psychischer Zustand: 8/10

Physischer Zustand: 8/10


Nach einer kurzen Nacht war ich guten Mutes, um im Long nochmals viel Spass zu haben und gut OL zu machen. Auch hier verbrachte ich meine Zeit mit meinem Lego-Bagger und vielen dummen Sprüchen.


Sonntag, 08.06., 13:01 Uhr, Tahko


Psychischer Zustand: 10/10

Physischer Zustand: 10/10


Der Startschuss zu einer Langdistanz-Perle ist gefallen.


Sonntag, 08.06., 13:47 Uhr, Tahko


Psychischer Zustand: 2/10

Physischer Zustand: 4/10 (es wurde langsam hart)


Mein Kopf freute sich sehr, als ich anfangs einer sehr langen Route bemerkte, dass Aaro Aho, der nicht im selben Heat lief wie ich, hinter mir sehr viel Dampf machte und so richtig pushte. Wir sind Halden-Teamkollegen und versicherten uns kurz gegenseitig, dass wir zum selben Posten unterwegs waren. Diese Information beruhigte mich sehr, denn der nächste Posten war ein wenig diffus und finnische Routine als Schützenhilfe sehr hilfreich.

Nur wenig später musste ich erkennen, dass ich mich ein wenig zu sehr auf die Schützenhilfe verlassen hatte, denn ich hatte die Kontrolle verloren. Aho ebenfalls...

Scheisse... Nach viereinhalb langen Minuten fand auch ich ziemlich abgekämpft zum Posten.


Sonntag, 08.06., 14:52 Uhr, Tahko


Psychischer Zustand: 0/10

Physischer Zustand: 0/10


Ich war einfach nur froh, als ich im Ziel war und der Spuk endlich vorbei war. So gelitten hatte ich schon länger nicht mehr und die Enttäuschung diesen Lauf so richtig verpatzt zu haben, war mir sehr ins Gesicht geschrieben. Es wäre alles bereit gewesen für eine Weltcupselektion, ich hätte nur solide laufen müssen...


Zieleinlauf Long (Foto: Orienteering Focus)
Zieleinlauf Long (Foto: Orienteering Focus)

Sonntag, 08.06., 15:13 Uhr, Tahko


Psychischer Zustand: 3/10

Physischer Zustand: 0/10


Geteiltes Leid ist halbes Leid. Ändert nichts, aber macht die Sache ein wenig besser.


Foto: Orienteering Focus
Foto: Orienteering Focus

Montag, 08.06., 13:12 Uhr, Discgolfanlage


Psychischer Zustand: 5/10

Physischer Zustand: 3/10


Ich fühlte mich wie nach einem richtigen Hangover. Einfach nur kaputt. Doch da muss mann durch, das Training des Tages vermeintlich locker, aber die zwei Stunden Discgolf hatten es in sich. Die Discs flogen irgendwo in die Scheisse, aber unsere Gruppe hatte einen Heidenspass.


Dienstag, 09.06., 08:32 Uhr, Wohnung irgendwo in Kuopio


Psychischer Zustand: 12/10

Physischer Zustand: 3/10


Realistisch war eine Weltcupselektion nicht wirklich, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber sie stirbt.

Als ich dann morgens auf mein mobiles Empfangsgerät schaute, konnte ich mir einen Jauchzer nicht verkneifen. Sehr zum Unverständnis von Laurin, der damit aus seinem Schlaf gerissen wurde.



Fazit: Zwischen Lego, Laktat und Lebenskrisen

Der Weg zum Weltcup war kein Märchen – eher eine finnische Achterbahnfahrt mit Minibagger. Zwischen Hochgefühl und Tiefpunkt, zwischen Mitternachtsschaukeln und Mittelstreckenflüchen blieb Timo vor allem eins: echt.

Seine Nominierung ist nicht nur ein sportlicher Erfolg, sondern auch das Resultat von mentalem Durchhaltevermögen, Selbstironie und einem ziemlich robusten inneren Kompass.

Was bleibt? Freude. Erleichterung. Und ein Lego-Bagger, der jetzt Weltcup-Geschichte schreiben kann.



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